Dezember 31, 2015

Was erwartet uns 2016?

Wie üblich, viel Ungemach...
 
Bei diesem evangelikalen Autoren steht 2016 mal wieder die finale Entrückung vor der Tür, allerdings nicht als sonderlich transzendentes Ereignis, sondern in Form eines dritten Weltkrieges zwischen den USA, Israel und Nordkorea (!)... alles sehr weltlich, somme tout.
 
Eine Episode des genannten Kriegs mit Nordkorea ist wohl die Mission von drei Piloten im Film "Stealth"...
 
Währenddessen überleben die Transformers ihr eigenes "Age of extinction" - leider, muss man sagen, angesichts der Qualität des Films.
 
Nichtsdestotrotz haben die USA daneben auch noch Zeit für eine schwere Wirtschaftskrise, während John Galt seinen "Streik" der Innovatoren und Unternehmer lostritt (zumindest laut dem ersten Teil der dreiteiligen Verfilmungen von Ayn Rands "Atlas Shrugged"...).
 
Und sie schicken (zusammen mit der EU) interstellare Schiffe auf grosse Reise, um der Überbevölkerung der Erde zu begegnen, diese gründen jedoch nur ein erfolgreiches Industrieunternehmen (berichtet zumindest Timothy Zahn).
 
Bei Star Trek sollte ursprünglich in diesem Jahr ein gewisser Donald Raymond (der Ehemann von Claire Raymond aus der TNG-Episode "The neutral zone") sterben, dieser Todesfall ist aber mittlerweile auf 2038 verschoben worden.
 
Im Perryversum wird ein gewisser Franklin Lubkov geboren, der 27 Jahre später Julian Tifflor entführen wird (geschrieben steht's in Perry Rhodan Heft 82, Schach dem Universum!) Daneben soll sich, laut dem ersten Band der Kosmos-Chroniken (bzw. der Perrypedia), Reginald Bull in diesem Jahr aus der Geschäftsführung der Venus-Terra-Kelterei zurückziehen.
 
Und hier? Wird es nach der 600-prozentigen Steigerung 2015 (von 0 auf 6, ähem...) wieder mehr Blogposts geben? Mal schauen, hängt von Zeitverfügbarkeit, Inspiration und Tagesaktualität ab. Zu regelmässigen Postings wie zwischen 2008 und 2012 werde ich aber wohl kaum zurückkehren. Ich folge diesbezüglich dem allgemeinen Blogger-Trend...

Dezember 24, 2015

Mühsam, passend zur Jahreszeit (7)

"München,  Montag, d. 27. Dezember 1915
Weihnachten ist vorbei, mit eignem Tannenbaum, großer Bescherung, reichlichen Geschenken, worin sich besonders Ehrengard hervortat. Der erste Feiertag brachte am Vormittag den ersten Sündenfall mit ihr, nachdem bei ihrem ersten Aufenthalt hier die Verhinderung durch Menstruation nur zu Swinegelexzessen geführt hatte. Ich hoffe, das Verhältnis immer noch in den Grenzen einer Laune halten zu können. Denn Zenzl leidet sehr darunter und fürchtet sicher für den Bestand unsres ehelichen Verständnisses. Aber mit Unrecht. Sie ist meinem Herzen die Nächste und wird es bleiben.
Vom Kriege nichts Besonderes. Die Westoffensive ist immer noch nicht Ereignis. An der griechisch-serbischen Grenze ist alles unverändert, und in Saloniki befestigen sich die Alliierten, die doch schon eine Viertel Million Mann versammelt haben, ob mit Einwilligung oder gegen den Protest der griechischen Regierung ist unklar. Die hat inzwischen einen 'Wahlsieg' zu verzeichnen. Die Venizelisten hatten Stimmenthaltung proklamiert. So hat das Kabinett eine starke Mehrheit erhalten. Wie aber die Wählerschaft Griechenlands gesinnt ist, geht daraus hervor, daß die deutschen Blätter treu und bieder berichteten, in Athen hätten nur 7000 Männer gewählt, gegen 20 000 bei den letzten Wahlen. Den Schluß, daß also Venizelos und die Deutschfeinde dort immer noch die absolute Majorität beherrschen, zieht kein Blatt und von hunderttausend Lesern höchstens Einer ... Hardens 'Zukunft' soll verboten sein. Das wäre immerhin erfreulich, da ein so kluger, wissender und geschickter Mann wie Harden dadurch völlig für die Opposition im Lande gewonnen wäre.
Zenzl gab mir auf, im Tagebuch zu vermerken, daß Weihnachten 1915 eine Gans mit Kragen und Eingeweiden 17–18 Mk gekostet hat, eine ausgenommene 14 Mark. Alles ist unsinnig verteuert, und obendrein von minderer Qualität. Die Streichhölzer, die übrigens schon auf die Neige zu gehn scheinen, brennen nicht. Für Bindfaden ist nur noch ein Ersatz zu haben, der bei jedem derberen Zugreifen zerreißt. Aber – wir Mangel leiden? Keine Spur! Wir halten durch, bis wir verreckt sind!"
 
(Auszug aus der hervorragenden Online-Edition von Erich Mühsams Tagebüchern, hier aus Heft XVI: http://www.muehsam-tagebuch.de/tb/index.php)

August 08, 2015

Trump, du Opfer!

Laut Donald Trump sei das "big problem" der Vereinigten Staaten die allinvasive "political correctness", für die er, wie in den letzten Wochen ja häufig bewiesen, schlicht keine Zeit habe. Mit solchen Aussagen, punktet Trump natürlich gerade bei der "Man wird ja wohl noch sagen dürfen..."-Crowd, über die sich Bloggerkollege JayJay unlängst ausgelassen hat. Selbst ein Multimillionär wie Trump kann sich zeitgeistgerecht als Opfer positionieren, er spricht für all diejenigen, die das Gefühl haben, dass man ihnen den Mund verbieten will.
Dabei entspricht dieser Opferdiskurs in keiner Hinsicht der Realität: Niemand verbietet Trump den Mund, Im Gegenteil: je ungehobelter, unsachlicher und "politisch unkorrekter" seine Aussagen sind, desto grösser ist seine Medienpräsenz und -resonanz (wenn auch als Skandalon). Zensur findet nicht statt.
Nichtsdestotrotz kann sich Trump als Opfer positionieren, weil das Recht auf freie Rede mittlerweile häufig mit dem Recht auf freie Rede ohne Widerspruch verwechselt wird. Wer meine Ansichten als logisch inkonsistent, faktisch falsch oder als beleidigend bezeichnet, beschneidet meine Meinungsfreiheit (anders gesagt: mein "Recht", recht zu haben). Typisches Beispiel: ein etwas übereifriger "Israelkritiker" wird von Unterstützern des israelischen Staates als "Antisemit" bezeichnet. In der Folge schreit er zeter und mordio, dass damit seine Meinungsfreiheit angegriffen sei... und erhält schliesslich einen gerichtlichen Bescheid, der seinen Gegnern verbietet, ihn als Antisemit zu bezeichnen. Dem entspricht auch die zunehmende Pathologisierung des politischen oder weltanschaulichen Gegners, indem abweichende Meinungen, etwa die Kritik einer Religion, als Phobien bezeichnet werden. Den Vogel abgeschossen hat in dieser Hinsicht die konservative französische Illustrierte Valeurs actuelles, die vor einiger Zeit ein "Observatoire de la droitophobie" ins Leben gerufen hat. Ein Linker ist also heute nicht mehr bloss "links", er ist "rechtophob".
Man verstehe mich allerdings nicht falsch. Ich bin selber kein Verfechter der sogenannten "political correctness". Es gibt tatsächlich Auswüchse, wie die gerichtliche Verfolgung von "Meinungsdelikten", auch hier in Luxemburg, die wir ja bereits öfter hier kritisiert haben, oder auch Gruppendynamiken, die zu Gesinnungsschnüffelei und vorauseilender Selbstzensur führen können. Ein Beispiel hierfür sind die Praktiken von Studierendenvertretungen an angelsächsischen Universitäten, die sich übrigens genau wie Trump gemeinhin mit einem Opferdiskurs legitimieren wollen. Solche Tatbestände tragen natürlich dazu bei, dem Schlagwort der Diktatur der political correctness eine gewisse Glaubwürdigkeit zu verleihen.
Nichtsdestotrotz ist der implizite Vergleich mit Verhältnissen in marxistisch-leninistischen Diktaturen arg überzogen. In der UdSSR hätte etwa dieser Blog nicht existieren können, ebensowenig wie die allermeisten Kommentare auf rtl.lu.  Auch heutzutage in vielen Staaten dieser Erde ist freie Meinungsäusserung oft mit Gefahr für Leib und Leben verbunden, in China, Ägypten oder Iran etwa.
Über gefährdete Meinungsfreiheit im Westen zu reden, ist eigentlich jammern auf hohem Niveau. Tatsächlich hat in den letzten Jahrzehnten, auch aufgrund der Entwicklung neuer, kostengünstiger Medien, eine Demokratisierung der freien Meinungsäusserung sondergleichen stattgefunden. Wir sind unendlich von Zuständen entfernt, wie sie etwa Martin Mulsow in seinem lesenswerten Buch Prekäres Wissen über die frühe Neuzeit schildert. Es ist auch kein Zufall, dass die Katholische Kirche bereits vor Jahrzehnten ihren Index librorum prohibitorum abgeschafft hat und auch kein nihil obstat in Neupublikationen mehr vermerkt. Tatsächlich wäre eine solche Aufgabe heutzutage logistisch nicht mehr zu bewältigen.
Der Nachteil dieser Demokratisierung der freien Meinungsäusserung ist bekannt: was gestern bloss in der Kneipe nach Feierabend verkündet wurde, findet man nun auf Facebook, Twitter oder in Kommentaren auf den Webseiten der Massenmedien wieder. Regeln der Faktizität, logischen Fundiertheit, des zwischenmenschlichen Umgangs oder auch der Rechtschreibung und Grammatik scheinen dabei vernachlässigbar. Dies hat zu einem "short-termism" und zu einer Hysterisierung der politischen Debatte geführt (wobei man natürlich auch die Qualität früherer politischer Auseinandersetzungen nicht überschätzen sollte).
Wie man dieser Tatsache beikommen kann, weiss ich auch nicht; zumindest hat jeder die Wahl sich nicht darauf einzulassen. Letztlich ist der einzelne User für seine eigenen Aussagen verantwortlich. Er muss auch damit leben können, dass andere ihm widersprechen oder ihn widerlegen. Manchmal kann dies sogar zu einem persönlichen Erkenntnisgewinn führen.

Juli 19, 2015

Die Lose-lose-Situation

Eine Win-Win-Situation sei die vergangenen Montag zwischen Griechenland und den anderen Eurozonen-Mitgliedern gefundene Vereinbarung, meinte Premierminister Xavier Bettel letzten Dienstag im Parlament. Wie viele der sonstigen Redner an diesem Tag, wage ich dies zu bezweifeln. Eher ist das genaue Gegenteil der Fall. Alle verlieren.

Auch wenn jetzt kurzfristig (dank life support der EZB, auch "emergency liquidity assistance" genannt) wieder die Banken geöffnet werden können, ist zu bezweifeln, dass das vereinbarte Programm Griechenland aus der seit 2010 andauernden Krise zu ziehen vermag. Dass ausgerechnet massive Mehrwertsteuererhöhungen konjunkturankurbelnd wirken sollen, scheint abwegig. Andere Teile der Vereinbarung, die offensichtlich politisch motiviert sind, bereiten bloss das Terrain für neue politische Konflikte in der Zukunft vor, so die Tatsache dass sämtliche gesetzgeberische Initiative von einigem Gewicht von "den Institutionen" abgesegnet werden soll, in anderen Worten die endgültige Aufgabe staatlicher zugunsten suprastaatlicher Souveränität, das willkürlich auf "50 Milliarden" festgelegte Privatisierungsprogramm nach ostdeutschem Treuhandmodell, bei dem fragwürdig ist, ob der griechische Staat überhaupt über Assets mit diesem Marktpreis verfügt, oder die Angriffe gegen Streikrecht und Tarifverhandlungen, die wohl auf massive gewerkschaftliche Gegenwehr stossen werden...

Andererseits haben die Geberländer keine Garantie, dass die 86 zusätzlichen Milliarden je zurückbezahlt werden - ohnehin dienen sie vor allem der Refinanzierung der bisherigen griechischen Staatsschuld... bei den gleichen Gläubigern. Statt einem haircut wird die griechische öffentliche Schuld noch weiter aufgebläht und überschreitet vielleicht demnächst diejenige Japans. Man bekämpft eine Schuldenkrise mit noch mehr Schulden.

Verkauft wird uns das ganze als Morality play. Die einen ärgern sich über die "faulen" Griechen, denen man keinen müden Cent leihen soll, die anderen über die "herzlosen" Deutschen, die aus nationalem Egoismus die Griechen verhungern lassen. Kleine Randbemerkung: die erste Variante scheint vor allem in protestantisch geprägten Ländern (Deutschland, die Niederlande, Finnland) zu dominieren, die zweite im katholischen Kulturkreis (Frankreich, Italien, mit Abstrichen auch Luxemburg). Dieser, nicht nur auf "neuen Medien" wie Twitter und Facebook, bis ins Hysterische ausartende moralisierende Diskurs fasst die gegenwärtige politische Krise nicht als Ausdruck real existierender Interessengegensätze zwischen Gläubigern und Schuldnern, realer Machtverhältnisse und ideologischer Gegensätze, sondern als Auseinandersetzung zwischen Völkern, zwischen nationalen Eigenarten und Kulturen.

Dass das Problem weniger hellenische Faulheit und germanischer Geiz sind, als vielmehr das Konstrukt des Euro an sich, scheint mir immer offensichtlicher. Der "Marktmonetarist" Lars Christensen etwa, der den Euro als "monetären Strangulationsmechanismus" bezeigt, sieht den Euro als Illustration des "fatal conceit" Hayeks und sieht sich dadurch bestätigt, dass die Wachstumszahlen in allen europäischen Staaten, die nicht der Eurozone angehören, seit Krisenbeginn 2007 durch die Bank besser sind, als bei den Eurozonenmitgliedern (Luxemburg ist eine seltene Ausnahme). In der Praxis habe der Euro als Wachstumshemmnis gewirkt und als Abwertungsmechanismus bloss Lohndruck und Steuererhöhungen zugelassen - mit der logischen Konsequenz der Unzufriedenheit des Wählervolks.

Manche Liberalen werden dem entgegen halten, dass der Euro auch positive Seiten hat: die Preisinflation ist - trotz quantitative easing - historisch niedrig, der Euro wirkt disziplinierend auf Lohnforderungen und staatliche Ausgaben; zudem hat er den Vorteil, dass dies alles als quasi apolitischer , rein "technischer" Vorgang. Aber dieser apolitische Vorgang bricht nur scheinbar das sogenannte "Primat der Politik": selbstverständlich ist er selber ebenfalls politisch gesetzt.
 
Die meisten EU-Bürger erkennen das natürlich auch und die EU als solche hat folglich ein gehöriges Glaubwürdigkeitsproblem. Doch die Form, welche die Opposition gegen die "EU der Technokraten" nimmt, macht die Situation noch tragischer. Einerseits die postmarxistische (und postmaterialistische) Linke, die sich in einer idealistischen Symbolpolitik erschöpft, von der das frenetisch als "Sternstunde der Demokratie" bejubelte "Oxi" beim absurden griechischen Referendum bloss die Speerspitze darstellt (genau so absurd ist das nun verbreitete "thisisacoup"-Mantra - dabei hat sich an den realpolitischen Machtverhältnissen nichts geändert, weder in Griechenland noch in der EU). Andererseits eine fast schon sinnfrei populistische Rechte, die auf nationale Abschottung und Protektionismus setzt. Dass beide Seiten durchaus miteinander zu verknüpfen sind, zeigt  ja ebenfalls das griechische Beispiel. So navigieren wir derzeit zwischen Skylla und Charibdis, zwischen Eurotechnokratie und linksrechtem Nationalpopulismus. Mal schauen, ob wir Ithaka erreichen.

Juni 08, 2015

Jee, Jee, Jee...

Auch ich habe mich dazu bringen lassen, mich am gestrigen Referendum zu beteiligen, trotz meiner hier erläuterten grundsätzlich kritischen Haltung gegenüber dem Instrument des Referendums... Auch wenn ich insgeheim Sympathien für die Wahlempfehlung der KPL hegte, hat mich doch die abgrundtief absurde dritte Frage (d.h. die Ministermandatsbegrenzung) dazu bewegt, meine drei Stimmen abzugeben (und zwar wie angekündigt).

Nichtsdestotrotz hat das Referendum mich nicht von der Überlegenheit des Instruments gegenüber den üblichen parlamentarischen Mechanismen überzeugt, im Gegenteil. Jeder rätselt nun, was "das Volk" mit seinem massiven Nee, Nee, Nee gegen das zum "Einwohnerwahlrecht" umbenannte Ausländerwahlrecht (obwohl keineswegs ein Wahlrecht für alle Einwohner zur Wahl stand, mal ganz abgesehen, dass auch den im Ausland wohnhaften Staatsbürgern das Wahlrecht nicht aberkannt werden sollte), gegen das fakultative Wahlrecht ab 16, glücklicherweise auch gegen die Mandatsbegrenzung, eigentlich sagen wollte. Bettel raus? Ausländer raus? Oder doch bloss: ich will nicht dass meine Stimme morgen noch weniger "wert" ist (d.h. zum Endergebnis beiträgt) als momentan? Ich vermute zumindest, dass, hätte man bei der Abschaffung des Zensuswahlrechts, der Einführung des Frauenwahlrechts oder der Absenkung des Mindestalters auf 18 Jahre, ähnlich verfahren, also diejenigen, die bereits über das Wahlrecht verfügten, in einem Referendum darüber entscheiden lassen, ob andere über das gleiche (vermeintliche) Privileg verfügen dürfen als sie selbst, das Resultat nicht viel anders ausgesehen hätte... A field day for rational choice theorists...

Damit will ich natürlich nicht absprechen, dass die Diskussionen zum Ausländerwahlrecht zum Teil bedenkliche Formen angenommen haben; tief scheint die Ablehnung gegen den Nachbarn, Kollegen und/oder Konkurrenten um Lohn und Arbeitsplatz zu sitzen und die Sorge um die "eigene Identität" sich konkret in einer Ablehnung der Identität des Nächsten auszudrücken. Aber ich würde sagen: das haben Referenden so an sich. Wie gesagt, komplexe Themen werden auf Fragen reduziert, die mit Ja oder Nein zu beantworten sind.

Dementsprechend ist es völliger Unsinn, festzustellen, das Referendum sei zwar ein tolles Instrument der "Mitbestimmung", der Pöbel, pardon: das Volk sei aber schlicht noch nicht "reif" dafür. Im Gegenteil: diese belehrende Haltung der Vertreter der hiesigen aufgeklärten Bourgeoisie, die meint, es fehle bloss an einem höheren Angebot an politischer Bildung, dann klappe das schon mit der offenen Gesellschaft, hat wohl zur Deutlichkeit des Ergebnisses beigetragen. Allzusehr erschien das "3mol Jo" als reines Elitenprojekt.

Als Fazit sei auf die Stellungnahme verwiesen, die ich zum Anfang dieser Debatte hier publiziert habe. Ich denke, ich muss kein Wort davon zurücknehmen.
Gesehen in der  Ausgabe des Le Quotidien 8.6.2015
Gesehen in der Ausgabe des Le Quotidien 8.6.2015
 
(Crosspost von L for Liberty)

Februar 09, 2015

Unabhängige Griechen und konkrete Antifaschisten

Als am Sonntag vor zwei Wochen das "Bündnis der radikalen Linken" Syriza eine haushohe Mehrheit bei den vorgezogenen Parlamentswahlen in Griechenland erhielt, und die absolute Mehrheit nur um zwei Sitze verfehlte, war der Jubel bei der hiesigen Linken groß. Gerne übersah man dabei, dass von absoluter Mehrheit bei der griechischen Wählerschaft keine Rede sein kann - trotz Wahlpflicht beteiligten sich lediglich 6,3 von 9,9 Millionen eingeschriebenen Wahlern an der Stimmabgabe, wovon 2,2 Millionen, d.h. weniger als ein Viertel, ihr Kreuz bei Syriza machten; über ähnlichen Jubel von ungewohnter Seite wunderte man sich vielleicht, konnte es aber leicht als puren Opportunismus abtun.
Etwas verwundert war man dann doch, als bereits um 10:30 Uhr am kommenden Morgen verkündet wurde, dass eine Koalition stehe - und zwar mit der als "rechtspopulistisch" eingeordneten Partei der "Unabhängigen Griechen" (ANEL). Recht fix ging das - offenbar entspricht ein langwieriges Abwiegen und Diskutieren und Infragestellen in internen Parteigremien nicht mehr dem Bild einer nunmehr regierungsfähigen Partei. Nichtsdestotrotz konnte auch dieser Fakt ebensowenig wie nicht gerade dem linken Verständnis entsprechende Geschlechterquote im neuen Kabinett (100% XY) die Begeisterung der Linken trüben, dass sie jetzt endlich auch irgendwo mitregieren - morgen vielleicht auch hier!
Ob in einer Koalition mit der ADR, die sich auf europäischer Ebene in der gleichen Gruppierung wie die ANEL tummelt (die European Conservatives and Reformers), bei der übrigens Fernand Kartheiser mehr Applaus erhalten hat als jemals auf einer Veranstaltung in Luxemburg (siehe hier)?
In einer freien Tribüne im Lëtzebuerger Land (Ausgabe vom 30. Januar) stellt Parteisprecher David Wagner klar, dass es sich bei der Koalition in Griechenland nicht um eine Querfront handelt, sondern vielmehr um "konkreten Antifaschismus" (so der Titel des Beitrags: "L'antifascisme concret"). Und das geht so: zwar sei die ANEL, "mis à part son approche de la dette", eine reaktionäre Partei, jedoch wären, mal abgesehen von den sektiererischen Kommunisten, alle sonstigen möglichen Koalitionspartner durch und durch "wirtschaftsliberal". Aus diesem Grund hatte Syriza gar keine andere Wahl als mit den Patrioten der ANEL zu koalieren und nahm deswegen erst gar keine Sondierungsgespräche mit anderen Parteien auf (immerhin wäre eine von der "Demokratischen Linken" (DIMAR) angeregte Dreierkoalition der Linken inklusive der abgehalferten Sozialisten ebenfalls eine Möglichkeit gewesen).
Der Wirtschaftsliberalismus sei jedoch nichts anderes als die "extrême droite économique". Konkreter Antifaschismus bedeute also Bekämpfung des Wirtschaftsliberalismus: "Les antifascistes sérieux combattent le fascisme en luttant contre le libéralisme économique et les injustices sociales (...)", während unseriöse Antifaschisten rechte Parteien bekämpfen.
Syriza hätte gerade den Fortschritt der noch böseren Rechten, der Neonazis von der "Goldenen Morgenröte", gestoppt, während die linken und rechten Wirtschaftsliberalen diesen befördert hätte (unsereiner wundert sich ja eher, dass die Goldene Morgenröte trotz des massiven Einsatzes der Staatsgewalt - Verhaftung fast der gesamten Führungsriege... - nichtsdestotrotz drittstärkste Kraft im griechischen Parlament wurde...).
Nun zeugt es zwar nicht gerade von einer hohen Geschichtskenntnis, im "Wirtschaftsliberalismus" die Ursache des Faschismus zu verorten. Weder das Nachkriegsitalien der frühen 1920er noch die späte Weimarer Republik waren von einem besonders ausgeprägten Liberalismus geprägt... - und ob dieser Terminus so recht auf die von vielen Griechen als "Kolonialisierung" empfundene politische Rahmensetzung der Geldgeberstaaten, inklusive Steuererhöhung und Aushebelung der Tarifautonomie der sog. Sozialpartner zugunsten einer national (d.h. staatlich) gelenkten Lohn(mässigungs)politik passt? (vergleiche etwa was der berüchtigte polnische Schocktherapeutler Leszek Balcerowicz zu den Auflagen der Troika und ihren Folgen schreibt).
Jedenfalls wäre, auf Luxemburg angewendet, eine Koalition der Lénk mit der ADR tatsächlich die logische Folge einer solchen Überlegung: sind nicht auch hier sämtliche sonstigen Parteien "neoliberal"? Und die KPL sektiererisch? Die Linke hat also gar keine andere Wahl, mit und trotz Kartheiser usw.
Aber soweit wird es nicht kommen. Aber immerhin kann Déi Lénk jetzt, wie seit Jahrzehnten ihre Vorväter und -bilder der LSAP, Übung darin erlangen, politische Rückschläge als Erfolge zu rationalisieren, Kompromisse als unumgänglich (denn TINA) zu charakterisieren und allgemein: zurück zu rudern (so, so oder auch so). Erst so wird man wirklich regierungsfähig, Genossinnen und Genossen, und kommt an die Pfründe der Macht!
 
Lesenswertes über Syriza, ihren sozialpatriotischen Diskurs, ihren Koalitionspartner (darunter der offenbar nur knapp an einem Ministerposten vorbei gerutschte und in Luxemburg als Bettel-Basher - "Europa der Schwuchteln!" - bekannte Nikolopoulos findet man übrigens in der letzten Jungle World - weiteres zum Verhältnis zum Chefideologen des Nationalbolschewismus Dugin hier.

Dezember 24, 2013